Heimweh by Marc Raabe

Heimweh by Marc Raabe

Autor:Marc Raabe [Raabe, Marc]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-06-07T16:00:00+00:00


Kapitel 36

1980, Garmisch-Partenkirchen

Im März lag immer noch Schnee. Jesse schlief nun Nacht für Nacht im Bett. Die anderen schnitten ihn zwar immer noch, doch sie unterließen es, ihn zu schikanieren. In der Zwischenzeit war niemand mehr aus dem Fenster geklettert, wohl einfach, weil es dafür zu kalt war. Solange das Dach vereist war, war ihnen der Weg versperrt. Jetzt, da es taute, änderten sich die Bedingungen.

Er sah zum Fenster, während Messner von außen ihre Tür abschloss. Er konnte Messner immer weniger leiden. Immerzu machte er einen auf klassische Bildung. Manchmal hatte er den Verdacht, dass sie immer wieder ins Rektorenzimmer gerufen wurden, damit Messner mit seinen Büchern angeben konnte. Er glaubte nicht, dass Messner viel las. Zu sagen hatte er jedenfalls nicht viel.

Nachdem der Alte gegangen war, herrschte gespannte Stille. Der Vollmond stand wie mit dem Rasiermesser ausgeschnitten am Himmel, nichts verschattete die Sterne, und die Milchstraße glich einer Staubwolke aus Licht.

Perfekte Bedingungen. Jesse wusste, was sie heute Nacht vorhatten. Er hatte die anderen tuscheln sehen, hatte gesehen, dass Sandra Richard einen Vogel gezeigt und er das mit einem Grinsen quittiert hatte. Er schien es als Bewunderung misszuverstehen. In Sandras Blick lag tatsächlich beides, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Und sie schaute ihn oft an. Den Sohn vom Direx. Den Kronprinzen. Das Leben war einfach unfair. Richard hatte alles. Eine Familie, genügend Geld, ein Schloss, eine Homie-Clique, er konnte gehen, wohin er wollte, wann auch immer er wollte. Sogar mit den Innis war er gleichauf.

Jesse dagegen war nie gleichauf. Mit niemandem. Und gehen, wohin er wollte, das konnte er erst recht nicht. Er steckte fest in seinem Schmutz. Kein Wunder, dass Sandra Richard ansah und nicht ihn. Sie beide hatten ihr beim Tanzen zugesehen. Doch ihm nahm sie es übel. Richard dagegen nicht.

Es wurde Zeit, etwas daran zu ändern. Er hasste es, dass sich immer andere vor ihn drängten. Dass immer andere besser waren. Erst unsichtbare Brüder, dann Kronprinzen.

»Heute komme ich mit«, sagte er in die Stille. Leise, aber bestimmt.

Keine Reaktion. Hatte er sich geirrt?

»Ach nee, wohin denn?«, fragte Alois.

»In den Wald, wohin denn sonst«, gab Jesse zurück.

»Vergiss es. Du hast ja wohl ’ne Macke.«

»Ich komme mit«, insistierte Jesse.

»Nein!« Alois starrte ihn wütend an.

»Sssst«, zischte Markus. »Du weckst noch alle auf.«

»Wenn der mitkommt, komme ich auch mit«, nörgelte Mattheo.

»Klappe«, schnauzte Alois. »Der kommt ja nicht mit.«

»Und du schon mal gar nicht«, wies Markus Mattheo zurecht.

»Ihr könnt doch gar nichts machen«, sagte Jesse. »Ich lass mich doch von euch nicht aufhalten.«

Alois sprang auf. »Markus, Wolle, helft mir.« Mit einem Mal stand er neben Jesse am Bett. Wolle war fast genauso schnell. Die beiden packten Jesse. »Markus«, keuchte Alois, »ich brauche was zum Festbinden.«

Jesse bäumte sich auf. Noch nie hatte er sich geprügelt, er war höchstens verprügelt worden, meistens von Vater. Er war gut darin gewesen, es zu erdulden und durchzustehen. Aber das hier war etwas anderes. Eine ungeheure Wut brannte in seinem Magen, er riss die Arme hin und her, bekam irgendwie die Rechte frei und verpasste Alois einen Schlag in die Magengrube.



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